Das Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut (HHI) hat zusammen mit den Fraunhofer-Instituten FOKUS und IPK im Auftrag der German Edge Cloud (GEC) und dem Innovationscluster 5G Berlin e.V. eine echtzeitfähige Kommunikationsinfrastruktur zur Erprobung industrieller Anwendungen in 5G-Standalone-Campusnetzen in Betrieb genommen. Als eines der ersten operativen, verteilten 5G-Standalone-Campusnetze in Deutschland mit heterogener Funktechnik soll es als Testumgebung für zukünftige echtzeitfähige Edge-Cloud-Anwendungen in der Industrie 4.0 dienen.
Deutschland gehört international zu den Vorreitern bei der privaten Nutzung von 5G und dem Aufbau sogenannter Campusnetze, also lokaler und kundenspezifisch angepasster 5G-Mobilfunknetze. Die nun in Betrieb genommene 5G-Kommunikationsinfrastruktur soll diesen Vorsprung weiter ausbauen. Die verteilten Campusnetze nutzen Glasfaserverbindungen, um eine Edge Cloud am Fraunhofer HHI mit dem Fraunhofer FOKUS und dem umfangreichen Maschinenpark sowie 5G-Funkzellen am Fraunhofer IPK echtzeitfähig zu vernetzen. Die Edge Cloud dient dabei sowohl als Plattform für das 5G-Kernnetz (Open5GCore des Fraunhofer FOKUS) als auch für die Software basierend auf künstlicher Intelligenz (KI) für die Auswertung von Sensordaten (HHI) und zur Steuerung der Maschinen (IPK). Neben industriellen 5G-Anwendungen nutzen Forschungsteams die Infrastruktur zur Weiterentwicklung von Netzwerktechnologien in Richtung 6G, insbesondere im Hinblick auf ein zukünftiges offenes 5G/6G-Ökosystem.
An allen drei Berliner Standorten stehen der IEEE Time Sensitive Networking (TSN)-Standard für die kabelgebundene Echtzeitkommunikation sowie 5G-Campusnetze zur Verfügung. Dieses Setup vernetzter und verteilter Netzwerkinfrastruktur inklusive Maschinenpark bietet einmalige Voraussetzungen für innovative, realitätsnahe Proof-of-Concept-Demonstrationen. Die Kommunikationsinfrastruktur steht ab sofort Kunden und Partnern aus Industrie und Forschung für gemeinsame Projekte zur Verfügung.
Erste Demonstrationen wurden bereits realisiert. Um bspw. die industrielle Anwendung einer ferngesteuerten Videoinspektion zur Qualitätskontrolle zu testen, wurde gemeinsam mit dem Industriepartner GEC eine Produktionszelle am Fraunhofer IPK, die aus einem Roboter, einem Förderband sowie flexibel einsetzbaren 2D-Industriekameras bestand, vom Fraunhofer HHI aus in Echtzeit per TSN über Glasfaser gesteuert. Die vom Fraunhofer HHI entwickelten Machine Vision-Modelle zur Erfassung von Handpositionen und Handgesten der Benutzenden, der Bauteilidentifikation und Positionsverfolgung haben die Videosignale aus der entfernten Produktionszelle in Echtzeit auf der Edge Cloud verarbeitet. Dabei wurde optisches Wellenlängen-Multiplexing (DWDM: Dense Wavelength Division Multiplexing) verwendet. Dies ermöglicht extrem niedrige Latenzen für die Übertragung der Videosignale aus der Maschinenhalle in die Edge Cloud sowie die der Steuersignale in umgekehrter Richtung. Dies ist eine der ersten TSN-Verbindungen über DWDM, die in einem Szenario der industriellen Automatisierung bisher umgesetzt wurde.
„In diesem Projekt konnten wir einen ambitionierten Videoanalyse-Demonstrator umsetzen, in dem unsere KI-basierte Bauteil- und Handgestenerkennung mit der Aktorik-Steuerung des IPK in die Edge Cloud ausgelagert und per TSN und 5G vernetzt wurden. Dies stellt eine wichtige Grundlage für die Flexibilisierung und Kostenreduktion von zukünftigen Mensch-Roboter-Interaktionsszenarien dar,“ so Paul Chojecki, Projektleiter am Fraunhofer HHI für den Videoanalyse-Use-Case.
Am Fraunhofer HHI wurde darüber hinaus in Kooperation mit der GEC ein KI-Dienstplattform für sicheres Maschinelles Lernen (ML) an verteilten Standorten entwickelt. Diese KI-Dienstplattform (DLFi – Distributed Learning Framework) ermöglicht durch verteiltes Lernen das kollaborative Training von ML-Modellen, ohne dass die Trainingsdaten an eine zentrale Instanz übermittelt werden müssen. Dies trägt signifikant zur Sicherheit sensibler Daten im industriellen Kontext bei.
Ein weiterer erprobter Use Case ist die cloud-basierte Steuerung und Navigation für fahrerlose Transportsysteme (FTS). Gemeinsam mit dem Industriepartner Getalt Robotics hat das Team die Steuerung und Navigation für ein 5G-fähiges FTS für die Ausführung in der Edge Cloud entwickelt. Darüber hinaus konnte die Steuerung einer Roboterzelle in Form von Micro-Services virtualisiert sowie die Zusammenarbeit zwischen FTS und Roboterzelle im Produktionsprozess gezeigt werden. Dabei erwies sich eine stabile Kommunikationsverbindung mit geringer Latenz zwischen FTS, Roboterzelle und Edge Cloud als wichtige Voraussetzung.
Über die industrielle Anwendung hinaus wird das offene Campusnetz von den Forschungsteams auch dafür genutzt, Netzwerktechnologien in Richtung 6G weiter zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf ein zukünftiges offenes 5G/6G-Ökosystem. Dies wird basierend auf einer Ende-zu-Ende-Virtualisierung der Infrastruktur, einer Disaggregation von Funkzugangsnetz- (Radio Access Networks, RAN) und Kernnetzfunktionen sowie der Etablierung offener Schnittstellen, wie sie in aktuellen OpenRAN-Ansätzen vorgeschlagen werden, erforscht.
„Mit dieser umfassenden Infrastruktur haben wir mit den beteiligten Partnern eine einzigartige Testumgebung für neue industrielle Anwendungen, Kommunikations- und Cloudtechnologien im urbanen Umfeld geschaffen,“ kommentiert Dr. Johannes Fischer, Gruppenleiter am Fraunhofer HHI und Gesamtprojektleiter. „Sie bietet unseren Partnern vielfältige Möglichkeiten, um neue Prototypen und Funktionsmuster in einer relevanten Einsatzumgebung zu testen.“
“Mit der uns nun zur Verfügung stehenden Infrastruktur aus 5G-Netz und Edge-Cloud haben wir am Fraunhofer IPK die Möglichkeit, die Anforderungen für die Automatisierungstechnik in einem industrienahen Umfeld zu ermitteln. So können wir gezielt die Entwicklung treiben. An Hand der erzielten Erfahrungen können wir unsere Partner aus der Industrie bestmöglich beim Einsatz ähnlicher Infrastruktur beraten,” sagt Prof. Dr.-Ing. Jörg Krüger, Bereichsleiter Automatisierungstechnik am Fraunhofer IPK.
„Die Herstellerneutralität unseres verteilten Fraunhofer-Campusnetzes fördert eine innovative, offene Netzinfrastruktur, da so die leistungsstärksten Komponenten verschiedener Hersteller – je nach Bedarf – kombiniert werden können,“ sagt Prof. Dr. Thomas Magedanz, Leiter des Geschäftsbereichs Software-based Networks am Fraunhofer FOKUS. „Ich bin fest davon überzeugt, dass der Trend zu hochspezialisierten privaten (Campus-)Netzen die Zukunft der mobilen Telekommunikation prägen wird. Virtuelle, also Software-basierte Netze sind hierbei von zentraler Bedeutung. Sie ermöglichen eine effiziente Realisierung anwendungsspezifischer und insbesondere dynamisch optimierbarer Campusnetze und im Hinblick auf 6G eine kontinuierliche Verbesserung des Netzes ohne einen Austausch der teuren Hardware.“
„Das Innovationscluster 5G Berlin hat mit seiner offenen und experimentellen Testumgebung für 5G-Standalone-Campusnetze zur Umsetzung der innovativen Industrie 4.0-Anwendungsszenarien beigetragen,“ kommentiert Prof. Dr. Erich Zielinski, Vorstand beim Innovationscluster 5G Berlin e.V.
Die Kommunikationsinfrastruktur bildet den Abschluss des Forschungsprojektes „Aufbau eines Demonstrators für den Einsatz von 5G, KI und FTS in industriellen Szenarien“, welches die Fraunhofer-Institute im Auftrag von GEC und 5G Berlin e. V. gemeinsam durchgeführt haben.
Quelle: Berliner Fraunhofer-Institute nehmen echtzeitfähige 5G-Kommunikationsinfrastruktur in Betrieb